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ShortStories

Man konnte hören, dass es ein Problem gab. Das zumindest verriet dieses unbekannte Geräusch: etwas war nicht in Ordnung. Sie öffnete die Tür zu ihrem Schlafzimmer. Alles schien wie immer: ihr Bett, ordentlich gemacht, ihr Kleiderschrank, ebenfalls geordnet, wie die Akten auf ihrem Schreibtisch.

Wieder riss sie dieses Geräusch zurück in ihre gegenwärtige Lage. Wo kam dieser Laut her? Es war mitten in der Nacht. Sie hatte gerade zu Bett gehen wollen. Es war ein schriller und gleichzeitig gedämpfter Laut, folglich also nicht in ihrer Wohnung. Es klang nach Schreien. Sie ging zum offenen Fenster und beugte sich über die alte Eisenbrüstung, um nach unten zu sehen- auf der Straße war Nichts. Dann sah sie nach oben, weit oben, um genau zu sein, drei Stockwerke über sich.

Ein Mann, sie konnte in der Schwärze der Nacht nicht mehr als seine Konturen ausmachen, trieb eine Frau, vermutlich seine Frau oder Freundin, an den Rand des kleinen Balkongeländers ihrer Wohnung. Mit der einen Hand hielt er ihren Hals umschlungen, mit der anderen verdeckte er ihren Mund, sodass die Schreie nur mit erheblichen Pausen aus ihrer Kehle klangen, mit jedem Mal wurden sie leiser.

„Lass mich Schatz! ... Bitte lass mich! Ich liebe dich! Ich hab es dir … doch schon so oft gesagt! … Glaub mir!“

Er glaubte ihr anscheinend nicht. Die Frau drohte zu fallen.

Drei Stockwerke darunter stand ein anderes menschliches Wesen- schockiert, regungslos.
Sie sah zu, wie der, von den Würgungen halbtote, Leib der Frau nur 5 Meter unter ihrem Fenster den Asphaltboden traf - wie ein Stein. Kopf voraus.

 

„Ich konnte hören, dass es ein Problem gab. Das zumindest verriet dieses unbekannte Geräusch: etwas war nicht in Ordnung. Sie stritten sich vielleicht schon seit einigen Stunden, bevor ich in mein Schlafzimmer kam und die Schreie hörte. Ich war zuvor in meinem Wohnzimmer, hatte den Fernseher an. Wie hätte ich da etwas hören sollen? Als ich die Schreie dann schließlich vernahm und an mein Fenster trat, war es schon zu spät. Es waren nur wenige Sekunden und da fiel sie schon…“

„Gut, Frau Jansen. Wir werden ihre Aussage ins Protokoll mit aufnehmen. Falls wir noch Fragen haben sollten, melden wir uns bei ihnen.“

Die Polizei ging und sie war wieder allein, als wäre Nichts geschehen. Ein Geräusch, ein Schrei, ein Fall, ein Tod, Ende.

Es war niemand da, als die Sirenen verklungen waren und alles Getöse zur Ruhe kam. Niemand und sie hätte auch keinen anrufen können. Freunde, Bekannte, Eltern, keinen von allen hatte sie. So kroch sie in ihr Bett, Frau Jansen: die einsame Grundschullehrerin, wohnhaft im vierten Stock, Plattenbau, irgendwo in Berlin. Sie selbst wusste nicht wo genau in Berlin sie war. Gerade Gestern angekommen, hatte sie sich heute eigentlich auf einen gemütlichen Abend in ihrem neu eingerichteten Wohnzimmer eingestellt, als…

Wieder hörte sie die Schreie in ihren Ohren. Sie würde diese wohl noch am Ende ihrer Tage genau beschreiben können, so scharf, so eindringlich waren sie ihr.

Hellwach lag sie da also in ihrem Bett. Lange war es nicht mehr bis zum Morgen, es dämmerte schon. Der erste Tag an ihrer neuen Schule würde schneller kommen als sie gedacht hatte.

 

Völlig übernächtigt saß sie 3 Stunden später im Bus auf dem Weg zur Arbeit. Einen Notizblock in der einen, den Bleistift gezückt in der anderen. Sie wollte sich ihre Anspannung nicht anmerken lassen, ihre Aufgewühltheit.

Aber sie musste ja trotzdem arbeiten gehen, sie hatte ihre Pflichten. Was würde das für einen Eindruck machen am ersten Tag zu fehlen, egal aus welchem Grund. Im Heim hatte man ihr oft genug eingebläut, dass nur wer sich genügend anstrenge und nicht nachgebe, es zu etwas bringen würde im Leben. Das hatte sie nie vergessen, ja, es zeichnete ihren Lebenslauf geradezu aus. Dafür zahlte sie aber auch einen hohen Preis. Sie war alleine. Meistens war es ihr recht, doch in dieser speziellen Lage, hätte sie sich nicht ungern eine starke Schulter gewünscht an die sie sich hätte lehnen können, ein Paar Ohren, die ihr zuhören würden oder Worte, die Trost spenden könnten. Sie sah sich im Bus um, jeder starrte in eine andere Richtung, versuchte weit möglichst vom anderen entfernt zu sitzen, keiner wollte auffallen, wie immer.

Aus einer Laune heraus, im Nachhinein wusste sie auch nicht mehr warum, fing sie an statt der Einkaufsliste, einen Text auf ihren Block zu kritzeln. Manchmal hatte sie solche sentimentalen Anfälle und gerade jetzt war es extrem. Sie verlor ihre sonst so streng gewahrte Selbstkontrolle und schrieb darauf los.

 

Windstille um mich

Der Schein von Ruhe erfüllt den Raum

Starre, Stangen, Blicke, Fenster

Sie spiegeln sich nicht

Sehen nur hindurch

Fixiert

Auf den Sturm in ihrem Innern

Ist er da?

Oder bin ich das einzige Boot hier draußen?

In Mir tobt es

Um mich Windstille

 

„Es ist interessant, was sie da schreiben.“

Erschrocken fuhr Frau Jansen auf. Noch nie war ihr etwas dergleichen passiert: Sie hatte sich gehen lassen, hatte geschrieben und dann, dass war das Seltsamste, hatte jemand sie gerade darauf angesprochen. Sie wusste nicht was sie sagen sollte. Sie starrte den jungen Mann ihr gegenüber einfach nur dümmlich an, bis ihr dieser Zustand einige Sekundenbruchteile später bewusst wurde und sie peinlich berührt den Kopf senkte.

„Es ist wirklich interessant. Erzählen sie mir, wie kommen sie auf solche Texte?“

Was für eine Frage war das denn? Wie sie darauf kam? Woher sollte sie das wissen? Sie war noch überraschter, aber versuchte die Fassung zu bewahren und zu antworten: „Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, wieso ich schreibe und ob es überhaupt einen Sinn hat- zumindest im Moment nicht.“

„Na dann versuchen Sie es doch mit einer längeren Erklärung bei einem Kaffee.“

Der Bus hatte gehalten, der junge Mann war aufgestanden und hatte ihr noch während seines letzten Satzes einen Zettel zugeschoben.

Perplex saß sie da also nun auf ihrem unbequemen Bussitz und starrte den kleinen Zettel an. Sie verpasste ihre Haltestelle, aber das war ihr jetzt auch egal. Ihre ganze Ordnung schien an diesem Morgen völlig umgekrempelt. Schon angefangen mit der Nacht, über ihre Emotionalität, die sie zum Schreiben verleitete, dann auch dieser Mann, zusätzlich pfiff sie in diesem Moment auf ihren Job und blieb im Bus sitzen. Aus den Fugen geraten, aus der Bahn geworfen oder wie auch immer man dazu sagte, alles auf einmal. Sie hatte keine Worte dafür. Sie, Frau Jansen, immer diszipliniert und zum Angriff bereit, war nicht erschlagen worden von dem nächtlichen Ereignis, nein, sondern von einem Mann. Sie brachte es nicht in ihren Kopf.

Nach weiteren zwei Haltestellen fasste sie sich schließlich genug um ihr Handy aus der Handtasche zu holen, die Nummer ihrer Grundschule zu wählen und der Sekretärin den Umstand ihrer Verhinderung zu erklären, wobei sie natürlich nur den nächtlichen Vorfall erwähnte – der schien ihr ein passablerer Erklärungsversuch, als ihr gegenwärtiger Zustand.

Es gab also doch noch Leben auf diesem Planeten. Einen Funken Hoffnung. Was auch immer sie da gerade erfüllte, sie beschloss es zu nutzen. Sie würde diese Nummer noch heute wählen.

Wärme kam in ihr auf, Freude und sie lies sich darin treiben. Gedankenversunken, dass war sie schon lange nicht mehr gewesen, doch so blätterte sie die Seite auf ihrem Block um und fing an zu schreiben. Jetzt hatte sie einen Grund, einen Sinn zu schreiben und obwohl sie nicht wusste warum, war sie sich sicher, dass ihm dieser Text noch besser gefallen würde.

 

Verkehrte Welten

 

In mir Windstille

Um mich tobt es

Sturmböen, Orkane, Wassermassen

Fließende, kreisende, unruhige Massen

Klares Sonnenlicht strömt durch die Fenster

Etwas hat sich bewegt

Eine Sonne brennt in mir

In mir Windstille

 

Die Letzten Worte schrieb sie mit einem sanften Lächeln ganz unten aufs Papier:

 

Es gibt ein Boot mehr in diesem Ozean

Man konnte hören...
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